Chancen für Anleihenanleger bei schwächeren Inflations- und Wachstumsaussichten
Ariel Bezalel, Investmentmanager für Anleihen, wirft einen genaueren Blick auf den nachlassenden Inflationsdruck, die größere Rezessionsgefahr und ihre Auswirkungen für Anleihenanleger.
Wer nicht ständig mit Anleihen zu tun hat, mag angesichts der jüngsten Marktbewegungen den Kopf schütteln.
Obwohl die Jahresrate der Verbraucherpreisinflation in den USA im Juni erneut höher als erwartet ausgefallen und auf einen neuen Höchststand von 9,1% gestiegen ist, hat das zu keinen weiteren dramatischen Bewegungen bei langfristigen Staatsanleihenrenditen geführt – und die langfristigen Inflationserwartungen sind sogar gesunken. Der von der US-Notenbank (Fed) wachsam beobachtete 5Y5Y Inflation Breakeven Index, der die implizite fünfjährige Inflationserwartung in fünf Jahren misst, liegt nur knapp über dem Inflationsziel der Fed von 2%.
Auch die Verbrauchererwartungen ändern sich. Die in der Konsumklimaumfrage der Universität Michigan abgefragten langfristigen Inflationserwartungen sind von 3,1% auf 2,8% gesunken. Ein Rückgang um -0,3% mag geringfügig erscheinen. In der Geschichte der Umfrage (die seit Ende der 1970er Jahre durchgeführt wird) liegt dieser Wert jedoch im 96. Perzentil der negativen Korrekturen über einen Monat.
Die jüngste Inflationsepisode geht auf mehrere Angebots- und Nachfrageschocks zurück. Der erste Preistreiber waren Konsumgüter, nachdem die pandemiebedingten Beschränkungen in Verbindung mit anhaltenden Lieferengpässen zu einem veränderten Konsumverhalten führten. Bei den globalen Lieferketten zeichnet sich inzwischen eine deutliche Entspannung ab. So ist der Supply Chain Pressures Index der New Yorker Fed gegenüber seinem Höchststand im Dezember 2021 bereits um rund 45% gesunken. Angesichts des Kaufkraftverlusts der Verbraucher ist auch der Konsumausblick verhaltener geworden. In Verbindung mit dem verstärkten Vorratsaufbau (auf den viele Unternehmen hinweisen) spricht das dafür, dass die Nachfragespitze hinter uns liegt. Der Investor Michael Burry (The Big Short) hat unlängst mit Tweets für mediales Aufsehen gesorgt, in denen er vor einer potenziellen Disinflation bei den Güterpreisen und dem „Bullwhip-Effekt“ („Peitscheneffekt“) warnt. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, bei dem kleinere Nachfrageschwankungen größere Auswirkungen in Großhandel und Produktion haben können. Wir argumentieren seit Langem, dass an den Gütermärkten deflationäre Kräfte am Werk sein könnten, und sehen dafür eine einfache Erklärung: Die Verbraucher haben zu viel gekauft!
Die letzte Inflationswelle ging dann von den Dienstleistungen aus, vor allem von der Unterkunft/Wohnen-Komponente des Verbraucherpreisindex. Der Anstieg der Mietpreise in den USA ist die Folge eines über lange Zeit überhitzten Immobilienmarktes. Die Mieten werden in der Regel jedoch nur alle zwölf Monate neu festgesetzt. Dadurch und durch Besonderheiten bei der Berechnung des Mietäquivalents (das gezahlt werden müsste, um ein bestehendes Haus als Mietobjekt zu ersetzen) ist der Mietanstieg ein strukturell nachlaufender Indikator. Am Immobilienmarkt könnte die Lage künftig komplexer werden. Höhere Hypothekenzinsen (die laut Mortgage Bankers Association aktuell bei etwa 5,75% liegen) haben Wohnraum weniger erschwinglich gemacht und zu einem Rückgang bei den neuen Hypothekenanträgen geführt. Dies wird sich auch auf die Wohnungsnachfrage auswirken. Und während der Bestand an neuen Häusern in den USA immer noch relativ begrenzt ist, befinden sich aktuell so viele Einfamilienhäuser im Bau wie zuletzt 2006.
Die Folgen liegen auf der Hand: Vielleicht haben die Anleihenrenditen ihren zyklischen Höchststand bereits hinter sich. Der Markt hat sich schnell auf die neue Konsensmeinung eingestellt: In der Spanne zwischen zwei und zehn Jahren ist die Renditekurve von US-Staatsanleihen bereits invertiert und die Fed Funds Futures haben einen Höchststand der Zinsen bei 3,5% bis Ende 2022 eingepreist, gefolgt von einem Rückgang ab dem zweiten Halbjahr 2023. In der Vergangenheit – vor allem in den letzten Jahren – waren die Fed-Kurswechsel noch abrupter und ausgeprägter. Wenn der Inflationsgeist wieder in die Flasche zurückkehrt, dürfte sich die Aufmerksamkeit der Fed auf die Rezessionsgefahren richten, womit sich das Narrativ verändern würde.
Trotz des unsicheren globalen Wachstumsausblicks sind dies spannende Zeiten für Anleihenanleger, da die Renditen ein Niveau erreicht haben, wie wir es seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen haben.
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*In Hongkong bezieht sich der Begriff „professionelle Anleger“ auf die Definition der Securities and Futures Ordinance (Kap. 571 der Gesetze von Hongkong) und in Singapur auf „institutionelle Anleger“ gemäß der Definition in Abschnitt 304 des Securities and Futures Act, Kapitel 289 von Singapur.