Die entscheidende Phase
Sorgen über die Finanzstabilität und das schwächere Wachstum könnten die Zentralbanken letztlich zur Kehrtwende zwingen, meinen Ariel Bezalel und Harry Richards. Das wäre positiv für langfristig orientierte Anleger.
Inzwischen sind mehrere Quartale vergangen, seitdem wir erstmals auf Anzeichen von Schwäche (oder Ermüdung) in vielen großen Volkswirtschaften hingewiesen haben.
Seither hat sich nichts geändert. Die Zentralbanken haben ihre Geldpolitik bereits deutlich gestrafft. In der Wirtschaft ist das bislang aber erst ansatzweise zu spüren. Ein deutlich langsameres Wachstum, eine weitere Straffung der Geldpolitik (einschließlich der Drosselung der Anleihenkäufe) und eine mittelfristig schwächere Inflation zeichnen sich ab. Die Risiken nehmen zu. Wir sind davon überzeugt, dass diese Faktoren die Zentralbanken letztlich zur Kehrtwende veranlassen werden, um das Finanzsystem zu stabilisieren und noch gravierendere Auswirkungen auf die Wirtschaft zu verhindern.
Die Gefahren für die Finanzstabilität haben sich – vor allem in den vergangenen sechs Wochen – bereits erhöht, wobei dies natürlich eine ganz andere Sorge ist als die allgemeinen Wachstums- und Inflationsängste. Nach vielen Jahren niedriger Zinsen und einer lockeren Geldpolitik befürchten wir, dass sich in Teilen des Marktes versteckte oder unterschätzte Leverage-Risiken aufgebaut haben. Finanzunfälle ereignen sich in der Regel dann, wenn ein derartiges Leverage in den Fokus rückt, weil starke Marktbewegungen die Anfälligkeit des Systems aufdecken. Vergangene Beispiele für derartige Bewegungen sind eine starke Aufwertung des US-Dollars, ein erheblicher Anstieg des Ölpreises im Jahresvergleich oder das Erreichen bestimmter Schwellenwerte bei den längerfristigen Zinsen. Im Jahr 2022 waren alle drei Stressfaktoren zu beobachten! Daher sehen wir den Rest des Jahres 2022 und die ersten Monate des Jahres 2023 als entscheidende Phase für die Finanzmärkte an und bleiben wachsam gegenüber ersten Anzeichen einer weiteren Destabilisierung.
In unseren Gesprächen mit Kunden haben wir zuletzt vor möglichen Auslösern eines Schocks für die Finanzstabilität gewarnt, von denen es viele gibt. Das erste Ereignis ist immer unerwartet. So hatten wir die mehrstündige Panik am britischen Staatsanleihenmarkt in der letzten Septemberwoche und die erhebliche Volatilität in der ersten Oktoberhälfte auch nicht wirklich vorhergesehen. Hier ging das Risiko vor allem vom britischen Rentensystem und „langweiligen“ Liability-Driven-Investment (LDI)-Mandaten aus. Trotzdem ist dies ein klares Beispiel für die unerwarteten Verwundbarkeiten, um die es uns hier geht.
Die Bank of England reagierte mit einem dramatischen Kurswechsel: Innerhalb von zwei Tagen ging sie von der quantitativen Straffung zu einer ‚vorübergehenden‘ quantitativen Lockerung über. Das sollte nicht überraschen. Auch wenn die Preisstabilität in der Regel ihr Hauptmandat ist, sind die Zentralbanken auch Hüter der Finanzstabilität. Und wenn diese gefährdet ist, verschwimmen die Grenzen und die Zentralbanken können sich gezwungen sehen zu handeln, um das System aufrechtzuerhalten.
Mit Blick auf die kommenden Monate sehen wir mindestens drei große Verwundbarkeiten:
1. Die drastische Verschärfung der Finanzierungsbedingungen und ihre möglichen Folgen. Die LDI-Mandate in Großbritannien sind dafür ein gutes Beispiel.
2. China. In den vergangenen Monaten wurde in den Medien etwas weniger über China berichtet. Aus der Blase, die sich am chinesischen Immobilienmarkt gebildet hat, ist die Luft jedoch noch nicht vollständig entwichen. Aus der längerfristigen Perspektive fällt es schwer, eine auf Bau- und Infrastrukturausgaben basierende Wirtschaft mit besorgniserregenden Prognosen für das Bevölkerungswachstum, dem Wunsch, „flutartige Stimulierungsmaßnahmen“ zu vermeiden, und schwindelerregend hohen BIP-Zielen in Einklang zu bringen.
3. Der Wohnungsmarkt. China hat seine eigenen Probleme mit dem Wohnungsmarkt, aber in vielen Industrieländern sieht es ebenfalls nicht gerade rosig aus. Nach dem parabolischen Anstieg der Immobilienpreise in den letzten Jahren wurde in den USA, Australien, Neuseeland und Großbritannien zuletzt ein moderaterer Preisanstieg und in einigen Fällen sogar ein Rückgang der Immobilienpreise verzeichnet. Die verschärften Finanzierungsbedingungen haben Wohnraum immer weniger erschwinglich gemacht, und während variabel verzinste Hypotheken in den USA kein großes Problem darstellen, sind sie in Großbritannien und Australien definitiv ein Sorgenfaktor.
Dies sind nur einige der Verwundbarkeiten, die wir aktuell sehen (andere Faktoren könnten die Energiekrise in Europa, die Geopolitik oder Liquiditätsinkongruenzen sein) – sie alle könnten zu massiven Preisänderungen an den Märkten führen.
Dabei geht es hier nicht nur um die Finanzstabilität, sondern auch um das schwächere Wachstum und die Inflation. Im September und Oktober wurden weitere unerwartet hohe Inflationszahlen veröffentlicht. Wir glauben jedoch, dass die Inflation letztlich nachgeben wird, wenn auch nicht so schnell, wie es der Fed lieb wäre. Die Verbraucherstimmung ist nach wie vor schwach, die Lagerbestände steigen weiter an (z. B. Nike, Micron Technology), die Aufträge für langlebige Güter sind rückläufig und die Komponenten des ISM für Auftragseingänge und Beschäftigung sind eingebrochen. Dies sind Anzeichen, die uns erneut zu der Annahme veranlassen, dass es in den kommenden Quartalen zu einer gewissen Verlangsamung des Anstiegs der Güterpreise kommen könnte. Die Rohstoffpreise sinken weiter, was den Druck auf die Gesamtinflationszahlen verringert, die US-Hauspreise verlangsamen sich, und im August wurden erstmals sinkende Mieten gemeldet. Tatsächlich war die Unterkunft/Wohnen-Komponente in den vergangenen Monaten ein wichtiger Faktor für den Anstieg der Verbraucherpreise. Auch wenn derartige Werte nicht heruntergespielt werden sollten, gilt es zu beachten, dass es sich bei der Mietpreiskomponente im Verbraucherpreisindex um einen strukturell nachlaufenden Faktor handelt.
Jenseits der ISM-Komponenten sind die Zahlen vom US-Arbeitsmarkt weiterhin gut. Der zuletzt beobachtete Rückgang der offenen Stellen (zugegebenermaßen von einem sehr hohen Niveau aus) könnte ein erstes Signal dafür sein, dass sich das Blatt wendet. Darüber hinaus haben immer mehr Unternehmen einen Einstellungsstopp oder Stellenabbau angekündigt (zuletzt Stanley Black & Decker, Meta, Softbank, Gap und Boeing).
Für die Anleger war der Anpassungsprozess an die Inflation bislang sehr schmerzhaft, aber es gibt auch Lichtblicke. Gemessen an den All-in-Yields erscheinen Anleihen zunehmend attraktiv bewertet (insbesondere im Vergleich zu Aktien). Noch größere Anlagechancen sehen wir in der Duration und Staatsanleihen in den USA, Australien und Südkorea. Gleichzeitig erscheinen die Credit Spreads nach der jüngsten Ausweitung wieder attraktiver. In Europa zum Beispiel bieten bonitätsschwächere Investment-Grade-Anleihen (die von den großen Ratingagenturen mit BBB bewertet werden) und das höhere Qualitätssegment des High-Yield-Marktes (Anleihen, die von den großen Ratingagenturen mit BB bewertet werden) inzwischen einen Renditeaufschlag gegenüber deutschen Bundesanleihen, der nicht allzu weit vom Spreadniveau während der Corona-Krise entfernt ist. Selbst sehr defensive Titel aus dem Telekommunikations- oder Gesundheitsbereich rentieren derzeit mit 7-9%.
Kurzum: Anleger, die langfristig investieren und/oder hohe regelmäßige Erträge suchen, können in diesem Markt definitiv fündig werden.
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*In Hongkong bezieht sich der Begriff „professionelle Anleger“ auf die Definition der Securities and Futures Ordinance (Kap. 571 der Gesetze von Hongkong) und in Singapur auf „institutionelle Anleger“ gemäß der Definition in Abschnitt 304 des Securities and Futures Act, Kapitel 289 von Singapur. 28442